Arno Heller, Wo sich Amerika erfand: Große Erinnerungsorte in Neuengland (Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 2015), 352 pp.

Amerikastudien/ American Studies, 61.3

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Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten jener vielfältigen Facetten, die nicht mehr kommentarlos unter dem allzu vereinheitlichenden Begriff einer US-amerikanischen Kultur zusammenzufassen sind, wird man neben anderen Aspekten unweigerlich auf eine gewisse Faszination, wenn nicht gar Obsession mit dem Konzept des Anfangs und des Anfangens stoßen, die den kulturellen Mainstream und sein Verständnis von Geschichte und Identität ebenso prägt wie subkulturelle und gegenkulturelle Positionen. Das Konzept des Gründungsortes spielt hierbei eine besondere Rolle, und Orte werden gerne zu Stätten gemacht, indem man sie mythisch überhöht, ganz gleich, ob es im Namen einer nationalen Identitätsbildung oder deren Gegenbewegung stattfindet, egal ob Plymouth Rock oder Woodstock. Die Konstruktion dieser Gründungsorte findet oftmals konkret über diskursive und materielle Praktiken statt, die Geschichtsschreibung mit musealer Aufarbeitung und Ausstellung verbinden und dabei immer eine gewisse Kontinuität zur Gegenwart und zu gegenwärtigen Identitäten herstellen (und sei es durch die Inszenierung eines Bruches mit der Vergangenheit).

In seinem Buch Wo sich Amerika erfand spürt Arno Heller einigen dieser Erinnerungsorte dort nach, wo sie in den USA vermutlich in der größten Dichte zu finden sind, nämlich in Neuengland. Es ist ihm dabei elegant der keineswegs leichte Brückenschlag zwischen akademischer Kulturwissenschaft (mit literarischem Fokus) und landeskundlicher Aufarbeitung gelungen, die das Buch für mindestens zwei Zielgruppen gleichermaßen interessant macht, ohne diese gegeneinander auszuspielen. Wo sich Amerika erfand ist zunächst einmal ein Reiseführer im besten Wortsinn, der eine wertvolle erzählerische Ergänzung zu jenen immer bildlastigeren Büchern darstellt, die Touristen zwar Karten, Daten und eine Liste sehenswerter Orte bieten, zugleich aber kaum mehr als einen knappen Absatz Text pro Eintrag aufweisen und sich höchstens noch einige wenige einführende Seiten zur allgemeinen Geschichte leisten. Auch Hellers Buch enthält zahlreiche Farbbilder, teilweise vom Autor selbst fotografiert, die in sehr guter Qualität und an geeigneter Stelle sinnvoll den Text illustrieren, aber auch nicht mehr tun wollen als dies. Die konkreten Fragen, mit denen sich analoge und digitale Reiseführer gerne beschäftigen – das kommentierte Kartenmaterial, das Touristen zu Sehenswürdigkeiten, Hotels, Souvenirläden und gutem Kaffee bringt – überlässt ihnen Heller gerne; er kümmert sich stattdessen um die narrative kulturhistorische Aufarbeitung und Einbettung eines Ortes im größeren nationalen, nicht selten auch globalen Kontext, und somit um jene Geschichte und Geschichten, die ein Reiseziel vielleicht überhaupt erst wirklich als Ort erfahrbar machen.

Hellers Buch ist jedoch nicht nur im Gepäck Neuenglandreisender gut aufgehoben, sondern erfüllt einen zweiten Zweck gleichermaßen überzeugend: Es bietet eine grundlegende Einführung in die Kulturgeschichte der USA, die Studierenden der Amerikanistik für einen ersten Überblick ebenso nützlich sein wird wie als Orientierungspunkt für detailliertere Recherchen. Indem Heller über konkrete Orte immer auch in ihrem jeweiligen Zeitkontext schreibt, vermittelt er größere Zusammenhänge in Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion und Gesellschaft, wobei er es nicht an kritischen Kommentaren aus gegenwärtiger Perspektive fehlen lässt, der die zeitgenössischen (Selbst-)Darstellungen einzuordnen weiß. Während sich etwa Klara Stephanie Szlezák in ihrem 2015 erschienenen Buch “Canonized in History”: Literary Tourism and 19th-Century Writers’ Houses in New England mit einem ähnlichen Thema überaus detailliert und theoriebezogen beschäftigt, wendet sich Heller ebenso überzeugend an eine andere Zielgruppe, nämlich an ein breites, deutschsprachiges „amerikainteressierte[s] Lesepublikum“ (7). Es gelingt ihm stilistisch wie inhaltlich, diesem Anspruch gerecht zu werden. Eine knappe Einleitung führt zum Thema hin und gibt einen Überblick über Inhalt und Struktur. Verweise auf die zahlreichen Texte, die diesem Werk zugrunde liegen, sind als Endnoten aus dem Fließtext genommen. Heller vermeidet es zudem, seinen Text durch ein Übermaß an Zitaten aus Primär- und Sekundärquellen zu überfrachten. Frei von Jargon nimmt der Text die US-amerikanische Kulturwissenschaft als Grundlage, anstatt seine Wissenschaftlichkeit durch fragwürdige stilistische Eigenheiten beweisen zu müssen, und schafft es so, im besten Sinne populärwissenschaftlich zu sein, da er Komplexität nicht mit Kompliziertheit verwechselt. Dazu gehört auch, dass amerikanische Begriffe nicht vorausgesetzt, sondern übersetzt werden, und auch Klassiker der amerikanischen Literatur in Übersetzung zitiert werden.

Inhaltlich und methodisch ist sich Heller natürlich offensichtlich sehr bewusst, dass gerade in Bezug auf Neuengland, dem historischen Zentrum der dominanten weißen anglo-amerikanischen Kultur, die Auswahl ohnehin als besonders markierter Orte ein problematisches Unterfangen ist, da diese selbst schon selektiv eine Geschichte erzählen, die man durch erneutes Selektieren nur noch exklusiver machen könnte. Heller begegnet dieser Schwierigkeit, indem er von Anfang an die von ihm diskutierten Orte in einen größeren zeithistorischen Kontext einbettet, so dass beispielsweise der Gründungsort des weißen Amerika schlechthin, Plymouth Rock, sofort mit einer Kritik am nationalen Mythos der Gründerväter verknüpft wird. So ist die Darstellung der im Titel als „große Erinnerungsorte“ apostrophierten Stätten immer auch ein Hinterfragen dieser Größe, dieser vermeintlichen Bedeutung für die Konstruktion einer nationalen Identität, was noch dadurch verstärkt wird, dass auch die Praxis der mit diesen Orten verbundenen Erinnerungskulturen mitunter kritisch gesehen wird. Heller changiert in seinen Ausführungen zwischen längeren kulturhistorischen Erzählungen und knapperen Darstellungen musealer Aufarbeitung und thematisiert dabei beispielsweise im zweiten Kapitel die Problematik, die Wampanoag in das living history-Konzept des Plimouth Plantation-Museums einzugliedern. Salem wird beispielsweise im dritten Kapitel nicht nur als Ort der Hexenprozesse beschrieben, sondern auch als Ort der Aufarbeitung dieses puritanischen Erbes durch den dort geborenen Nathaniel Hawthorne. Diese Dialektik zieht sich durch das gesamte Werk, das Mythenbildung in Vergangenheit und Gegenwart ebenso beschreibt wie kritisch hinterfragt; in Kapitel vier etwa wird Boston nicht nur als „Wiege der Freiheit“ (92) in Bezug auf die Revolutionszeit diskutiert, sondern auch „die Kehrseite des Mythos“ (120) erörtert, und diesem Gegensatz wird noch Bostons „zweite Revolution“ (122) des Abolutionismus gegenübergestellt. Diese Dialektik manifestiert sich auch darin, dass vielfältige gegenkulturelle und sozialutopische Entwürfe für ein anderes Amerika diskutiert werden, die an vielen dieser Erinnerungsorte entstanden sind (und die dort meistens auch scheiterten). Kapitel fünf beschäftigt sich beispielsweise mit dem Hancock Shaker Village, Kapitel sechs mit Concord und den Transzendentalisten (und detailliert mit Brook Farm und insbesondere Thoreaus Lebensexperiment am Walden Pond).

Kapitel sieben hingegen scheint weniger ortsgebunden zu sein als die früheren Kapitel, da es sich zwar mit New Bedford befasst, dies aber mehr zum Anlass nimmt, ausführlich auf Herman Melville und insbesondere Moby-Dick in deren „nachhaltige[r] Bedeutung“ (242)  einzugehen. Der Autor gibt selbst freimütig zu, dass hier der Ortsbezug eher irrelevant ist: „Zwar bilden Neuengland, der Walfang und die Seefahrt die Grundlage [Melvilles] Werks, aber es wäre absurd, dieses nur in einen vordergründigen regionalen Bezugsrahmen zu stellen“ (243). Das Kapitel ist jedoch keineswegs fehl am Platz, sondern impliziert durch seine ausgiebige Analyse eines Romans, dass Erinnerungs- und Gründungsorte nicht nur immer materielle und diskursive Elemente vereinen, sondern dass sie vielleicht sogar mitunter gänzlich fiktional sein mögen, und dass Moby-Dick mit der eigenartigen Verortung eines Schiffes auf See ebenso eine Funktion der Identitätsstiftung und –kritik erfüllen mag wie der kuratierte Boston Freedom Trail.

 Kapitel acht wendet sich wiederum einem konkreteren Ort zu, nämlich Lowell, Massachusetts, an dem „die industrielle Revolution in den USA ihren Ausgang“ nahm (244), und wo insbesondere die erinnerungskulturelle Aufarbeitung dieser Anfänge von Interesse ist. Heller beschreibt den Lowell National Historical Park als Ort, an dem die „Grenzziehungen zwischen musealer und realer Lebenswelt […] fließend und für den Besucher kaum wahrnehmbar“ sind (269), und wo sich verschiedene Narrative und Ideologien um die Deutungshoheit streiten, die je nach Perspektive entweder die Mill Girls oder die multikulturellen Einwanderer bzw. die sozialutopischen Erfolge oder die ausbeuterischen Missstände in den Vordergrund stellen wollen. Kapitel neun wendet sich wie im Falle Melvilles erneut eher einer Person als einem Ort zu und handelt mehr von Mark Twain als von Hartford, Connecticut, aber auch hier ist der biographisch-literaturhistorische Ansatz mit nichtsdestotrotz starkem Ortsbezug legitim und erhellend. Abschließend fasst Kapitel 10 unter dem Titel „Selbsterfindung in der Gedächtniskultur Neuenglands“ nochmals den beschriebenen Prozess der amerikanischen Mythenbildung durch Erinnerungsorte zusammen und erweitert ihn durch knappe Ergänzungen, die bei anderer Schwerpunktsetzung auch eigene Kapitel verdient gehabt hätten, so aber zumindest ihren Platz finden: Universitäten (wobei durch den Bezug auf Harvard besonders Emily Dickinson Erwähnung findet), (Volks-)Kunstmuseen, sowie zuletzt „die Prunkbauten der Superreichen“ (319).

Natürlich mag jeder Leser, ob Neuenglandtourist oder Amerikanist, sich am Ende überlegen, welche Bücher Arno Heller nicht geschrieben hat, indem er seine Auswahl an Erinnerungsorten traf; eine Kritik an dieser Auswahl verbietet sich aber nicht nur aufgrund der Vielfalt an Möglichkeiten, sondern auch weil es Heller gelungen ist, diese Orte sowohl in ihrer spezifischen Materialität als auch abstrakt zu beschreiben und zu vermitteln, und so nicht nur ihre Geschichte zu erzählen, sondern auch viele jener Geschichten einzubeziehen, die sie nicht unbedingt erzählen wollen oder können. So ist dieses Buch ein sehr aktuelles, auch wenn es im Ton historisch scheinen mag: indem es die Bedeutung der als solcher konstruierten Erinnerungsorte hinterfragt, hinterfragt es auch die sozialen, politischen und kulturellen Normen, Werte und Ziele, die dieser andauernden Konstruktion zugrunde liegen, während es gleichzeitig auch daran partizipiert.

 

Sascha Pöhlmann (Ludwig-Maximilians-Universität München)