Ulrich Rosenhagen, Brudermord, Freiheitsdrang, Weltenrichter. Religiöse Kommunikation und öffentliche Theologie in der amerikanischen Revolutionsepoche (Berlin/Boston: De Gruyter, 2015), 370 pp.

Amerikastudien/ American Studies, 61.2

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Die Heidelberger Dissertation im Fach Systematische Theologie des lutheranischen Pfarrers und als Dozent am Institute for the Study of the Abrahamic Religions der University of Wisconsin in Madison/Wisc. tätigen Ulrich Rosenhagen präsentiert sich als Anwendung des aktuell intensiv diskutierten Konzepts der sogenannten Öffentlichen Theologie auf das historische Beispiel, die religiös aufgeladene Rhetorik im Vorfeld und Verlauf der Amerikanischen Revolution ca. 1763-1783. Gerade die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, der sich Rosenhagen eng verbunden fühlt (S. IX), ist mehrfach in den letzten Jahren mit vehementen Plädoyers zu dieser Form der Theologie hervorgetreten, die Lehrkonzepte Martin Luthers aufgreift.[1] Rosenhagen argumentiert in gewisser Weise pro domo und zugunsten der Bedeutung eigener Positionen, Praktiken und Prämissen, wenn er der protestantischen Religion, deren prominenten Vertretern, den Pfarrern, und biblisch verbrämter Rhetorik in Britisch-Nordamerika bzw. in den gerade formierten USA eine wesentliche Rolle bei den entscheidenden Phasen der Revolution zuschreibt. An dem Punkt ist zu bedenken, dass diese positive Einschätzung aus der  sichernden Rückschau der Sieger in der Geschichte erfolgt: unter heutigen Verhältnissen könnten in bestimmten Weltgegenden, auch in den USA, Geistliche, die ihre Gemeinden zum Kampf gegen tradierte Obrigkeiten und Machtverhältnisse aufrufen, als sogenannte ‚Hassprediger’ oder Befürworter einer fundamentalistischen Propaganda bezeichnet werden, die für weltliche Ziele die allgemein akzeptierte Autorität religiöser Basistexte instrumentalisieren.

 

Rosenhagen vermittelt den Eindruck, dass ausschließlich protestantische Pfarrer im Neuengland der 1770er Jahren das Beste für ihre bedrängten Schäflein zumindest verbal erkämpfen wollten, jenes Beste allein durch den Protestantismus in Nordamerika entstanden und in der protestantischen Religion die Einheit von Glaube und Freiheit gegeben sei.

 

Diese Thesen sowie grundlegende Begriffe und Forschungsansätze werden in der Einleitung (S. 1-37) und im ersten Teil mit der Hinführung zum eigentlichen Untersuchungsobjekt (S. 41-62) kurz vorgestellt, ehe dann eine bekannte Karikatur von 1769 An Attempt to land a Bishop in America die anglikanische Bischofskontroverse aufgreift und über die Stamp Act Crisis von 1764 zur Rezeption eines zum Massaker aufgeblähten Scharmützels in Boston 1773 überleitet. Die Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien von 1776, der Schlüsseltext, der den eigentlich revolutionären, den alles verändernden Akt der Unabhängigkeit darstellt und vollzieht, steht in unmittelbarer Nachbarschaft zu Zeugnissen von sekundärer Bedeutung, die mit konkreten militärischen Ängsten und sozialen Traumen korrespondieren, die auch in der Jeffersonschen Erklärung angesprochen werden. Rosenhagen beschäftigt sich mit Flugblättern des Kontinentalkongresses, mit denen deutsche Militärs im Dienste Königs Georg III. unter Verweis auf den zürnenden alttestamentarischen Gott zum Desertieren und zur Übernahme amerikanischer Genüsse (Landeigentum, Freiheit, Sicherheit) bewegt werden sollten. (S. 63-124).

 

Besondere Beachtung schenkt der Autor in Teil II (S. 127-312) dem Bestseller Common Sense, mit dem der Neuankömmling in Britisch-Nordamerika, der Engländer Thomas Paine seit dem Frühjahr 1776 die engen Bindungen zwischen England und dessen Kolonien kappte. Die passenden und – manchmal – unpassenden Bibelverweise seiner brisanten Demontage der englischen Monarchie finden gründliche Untersuchungen. Allerdings sucht man vergeblich einen Hinweis darauf, dass Paine als geschickter Psychologe und politisch interessierter Journalist genau die rhetorische Klaviatur kannte, die bedient werden musste, wenn man die Emotionen der Kolonisten aufrütteln wollte. Die Bibel als Code wusste jeder der Zeitgenossen unabhängig vom individuellen Glauben zu deuten und Paine, der sich später eindeutig gegen das Christentum stellte, benutzte die Wirkungsmächtigkeit der bekannten Worthülsen losgelöst von ihrem theologischen Gehalt. 

Den meisten Raum in Teil II „Von der Religion in der Öffentlichkeit zur öffentlichen Theologie der Revolutionszeit“ nimmt die Beschäftigung mit evangelischen Pfarrern und deren einflussreicher Stellung in der Gesellschaft Neuenglands ein, denen Rosenhagen neben den Juristen die entscheidende Rolle für das „Gelingen der Revolution“ zuschreibt (S. 193).  Das neuenglische Pfarrleben wird als gepflegt-gebildete Idylle und die prinzipiell altruistischen Pfarrer als „kleine Gründerväter“ skizziert (S. 212). Am Beispiel von Predigten der kongregationalistischen Pfarrer Jonathan Mayhew (Boston), John Lathrop (Boston), Samuel Cooke (Cambridge/Mass), John Allen (seine Denomination entziehe sich einer klaren Zuordnung, S. 278) und Samuel West (Dartmouth/Mass.) der Jahre 1763, Frühjahr 1770, Dezember 1772 und Mai 1776 sollen generelle Aussagen über die Befindlichkeiten der gesamten amerikanischen Öffentlichkeit kondensiert werden.

 

In der gründlichen Analyse der Predigten als Erziehungsmittel, als Werkzeug und Propagandainstrument der praktizierenden Seelsorger liegt die besondere Qualität der Studie; problematisch ist jedoch der Umstand, dass die Predigten nicht als Diskurse in ihren unmittelbaren Kontext gestellt, sondern auf Monologe reduziert ohne Beachtung möglicher Reaktionen und damit Wirkungen der Texte, Reden oder Traktate auf Leser- oder Zuhörerschaft betrachtet werden. Es fehlt die Untersuchung der Interaktion von Sender und Empfänger im System der im Titel avisierten Kommunikation. Sicherlich sind weitere Analysen der rhetorischen Zweckgemeinschaft von Militär, Kommerz und Kanzel sinnvoll, der bürgerlichen Trias, die sich weniger aus moralisch-ethischen, sondern vielmehr aus konkreten wirtschaftlich-rechtlichen Gruppeninteressen de iure gegen den König als Kolonialherr, de facto aber gegen das englische Parlament stellte. Doch sollte man dabei nicht bei der Bestandsaufnahme der Manier und Methoden der Texte stehenbleiben, sondern diese Texte kontextualisieren. Als Dissertation in einem Teilbereich der Theologie werden dieser Studie mit der Darlegung solider homiletischer Kenntnisse zweifellos Meriten zukommen; aus der Warte der Geschichtswissenschaft im Hinblick auf amerikanische und atlantische Geschichtsforschung sind jedoch einige Lücken, Schieflagen und manche gravierenden Missverständnisse zu beklagen.

 

  1. Es mangelt der Darstellung häufig an Distanz zum Untersuchungsgegenstand absehbar an der unreflektierten Übernahme von Vorurteilen und Prämissen, wie der selbstverständlich vorausgesetzten Selbstlosigkeit des Pfarrerstandes, der whiggistischen Darstellung der anglo-amerikanischen Geschichte als Produkt des akzeptablen Kampfes gegen Absolutismus und Katholizismus (S. 275ff).
  2. Trotz intensiver Darstellungen der wissenschaftlichen Leistungen von Bernard Bailyn, Gordon S. Wood, Timothy Hall Breen und Hermann Wellenreuther als den führenden Forschern der Amerikanischen Revolution fehlt den Ausführungen ein tiefgehendes historisches Verständnis für Ursachen, Triebkräfte und Träger der Vorgänge in Nordamerika in den 1770er-1780er Jahren. Es ging in dem Chaos und Rechtsvakuum nicht um abgehobene theologische Positionen einer Elite wohlbestallter Pfarrer in Massachusetts, sondern um Machtkämpfe zwischen Gruppen über Eigentum in dessen diversen Erscheinungsformen. In diesem Sinne entzündeten sich Streitereien um Einquartierungen von Soldaten, um die Abordnung von Geistlichen oder um Steuerauflagen. Unreflektiert übernimmt Rosenhagen die Terminologie der Zeit und bezeichnet die englischen Soldaten 1770 in Boston als „Besatzungsmacht“ (S.90): die englischen Soldaten waren keine Besatzungsmacht. Besetzen kann man nur Territorien, die nicht der Herrschaft der Macht unterstehen, welche Soldaten aussendet. Boston bzw. Massachusetts entstand 1629 aufgrund einer königlichen Charter und somit hatte die Krone jedes Recht, Soldaten in ihren Herrschaftsbereich zu versetzen. Unreflektiert übernimmt der Verfasser den Suggestivbegriff des Boston Massacre und geht damit wieder der geschickten Propaganda der Gegner des Mutterlandes und englischer Lobbyisten auf den Leim, während ausgerechnet der unmittelbar präsente John Hancock unspektakulär von der „bloody tragedy of the fifth of March, 1770“ sprach (S. 88). Das Ziel des militärischen Konflikts in Kooperation mit kirchlicher Propaganda als Schaffung eines demokratischen Staatsgebildes zu beschreiben, geht völlig an der zeitgenössischen Realität vorbei, denn der politischen Elite war der Begriff Demokratie als Herrschaft des Mobs, der eine Oligarchie besitzender, weißer Männer unbedingt verhindern wollte, ein Graus.
  3. Die Amerikanische Revolution wird zugunsten des Einflusses kirchlicher Gruppen als Ereignis und Prozess dargestellt, die vollkommen einmalig, ohne Verankerung in der atlantischen Welt dastünden und somit indirekt den ebenso häufig wie fälschlich deklarierten American Exceptionalism bewiesen (S. 48). Die kongregationalistischen Geistlichen in Neuengland waren nicht jäh Athenes Helm entsprungen. Die Ereignisse der 1770er Jahre, wie deren Schlüsseltext, die Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien von 1776, waren kein isoliertes Produkt eines amerikanischen Genius, sondern stehen in einer langen atlantischen Traditionslinie, die von der Magna Carta (1215) über die niederländische Akte van Afzwering (Plakkaat van Verlatinghe) von 1581, die Unabhängigkeitserklärung von Barbados 1650 bis zur englisch-niederländischen Glorreichen Revolution (1688/89) reicht, deren elementare Bedeutung für das kollektive Wissen um Widerstand von Rosenhagen missverstanden wird. Der Clou der Glorreichen Revolution bestand doch gerade in der Vermischung zweier Prinzipien, des Geblütsrechts und des Wahlkönigtums, das etwa auf dem europäischen Kontinent überwog. Nicht Jakob II. war der letzte Stuart auf dem englischen Thron, sondern Wilhelm III. und dann dessen Cousine und Schwägerin Königin Anne (S.78). Entgeht einem dieses wichtige dynastische Faktum, versteht man die Ereignisgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts nicht und übersieht damit wesentliche Faktoren, die über den French and Indian War zu Lexington, Saratoga und den Delaware River führten. Die mittelalterliche Magna Carta als Baustein gemeinsamer anglo-amerikanischer Mythen wird erwähnt, doch in unzulässiger Manier als „frühdemokratisches Grunddokument“ (S. 183) tituliert; die englischen Adeligen des 13. Jahrhunderts, die die ungünstige Lage ihres militärisch geschwächten Königs für eigene Interessen nutzten, waren ebenso wenig wie die sogenannten Gründerväter in Philadelphia/Penn 1776 an der Schaffung einer Demokratie interessiert.

 

Den historischen Abrissen fehlt es an Tiefenschärfe und terminologischer Präzision. Dafür entschädigt, wenn man die Nähe des Autoren zum Forschungsobjekt und der erkenntnisleitenden Theorie der ‚Öffentlichen Theologie‘ berücksichtigt, dessen solide Kenntnis im Umgang mit der ‚dichten Beschreibung’, die eventuell noch von der Einbeziehung grundlegender Arbeiten zur Pamphletliteratur und deren Rhetorik in England und den Kolonien hätte profitieren können.[2]

 

Insgesamt gewinnt man Einblicke in kleine Facetten religiös verbrämter Propaganda zugunsten frühneuzeitlicher Vorstellungen von Wenden und vom Widerstand beruflicher Eliten, Politiker, Pamphletisten und Prediger, und hofft auf Erweiterungen, die auch andere, nicht minder einflussreiche Kirchen und religiöse Gemeinschaften innerhalb Nordamerikas/der USA der Zeit in den Blick nehmen, die nicht ganz so simpel und missverständlich verortbar sind, wie auf S.  49 geschehen. Die religiöse Topographie war deutlich differenzierter und das religiös-politische Leben in den USA war ungeachtet späterer Mystifizierungen nicht vom neuenglischen Puritanismus dominiert.

 

Claudia Schnurmann (Hamburg)



[1] Eberhard Pausch, Was ist ‚Öffentliche Theologie’? Einige Überlegungen aus der Perspektive öffentlicher Verantwortung, in:  Zweitmonatsschrift für Pfarrerinnen und Pfarrer aus Hessen-Nassau und Kurhessen-Waldeck 1, Februar 2013, S. 12-18.

[2] Karl Tilman Winkler, Wörterkrieg: Politische Debattenkultur in England 1689-1750, Stuttgart:Franz Steiner Verlag, 1998; Hermann Wellenreuther, Citizens in a Strange Land: A Study of German-American Broadsides and Their Meaning for Germans in North America, 1730-1830, University Park/PA: Penn State UP, 2013.