Stefan Pavenzinger, The Voice of America. Die gesellschaftspolitische Vermittlerfunktion Johnny Cashs 1963-1972. (Trier: WVT, 2012), 408 pages.

Amerikastudien/ American Studies, 62.1

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Johnny Cash ist eine der herausragenden Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Seine Jahrhundertstimme, der unverwechselbare Sound und ein Songrepertoire, das die Geschichten des Lebens und des Landes erzählt, haben den 2003 verstorbenen Country-Sänger zu einem Klassiker der populären Musik gemacht. Klassiker erleiden bekanntlich häufig das Schicksal, dass sie in Vergessenheit zu geraten drohen. Bei Cash kann davon keine Rede sein. Wie groß sein Einfluss auf die US-amerikanische und weltweite Popkultur eingeschätzt wird, lässt sich an den zahlreichen Büchern und Artikeln ablesen, die mittlerweile über ihn publiziert wurden. 2013 etwa erschien eine 700 Seiten starke Biographie aus der Feder des bekannten Musikjournalisten Robert Hilburn, die Cashs bewegtes Leben minutiös nachzeichnet und sein künstlerisches Schaffen bilanziert.

Längst ist Johnny Cash auch zu einem Gegenstand der Wissenschaft geworden. In den meisten Arbeiten stehen die künstlerischen Aspekte, also die Musik, im Vordergrund. Cash, der 1932 in Kingsland, Arkansas, auf die Welt kam und seine Kindheit und Jugendzeit auf den Baumwollfeldern seiner ländlichen Heimat verbrachte, hat sich selbst als Country-Sänger bezeichnet, wollte aber niemals ausschließlich auf diese Richtung festgelegt werden. Tatsächlich wird Cash in den Plattenläden jedoch bis heute fast immer unter Country, oder wie es früher hieß: Country & Western, einsortiert. Unter allen Preisen, die er im Laufe seiner Karriere gewann, bedeutete ihm die Aufnahme in die Ruhmeshalle der Country-Musik 1980 laut eigener Auskunft am meisten. Cashs Bandbreite wies aber von jeher über die engen Grenzen des Genres hinaus. Nahm er zu Beginn seiner Karriere bei Sun-Records in Memphis Mitte der fünfziger Jahre die Einflüsse des Rock and Roll musikalisch auf, wurde er in den sechziger Jahren von der aufkommenden Folkbewegung inspiriert. Sein grandioses Spätwerk, das ihm ab 1994 ein triumphales Comeback bescherte, entzieht sich der Kategorisierung noch stärker. So wurde Cashs 1996 aufgenommenes, zweites American-Album Unchained mit einem Grammy für die beste Country-Platte ausgezeichnet, während die zwei Jahre zuvor erschienenen American Recordings denselben Preis in der Rubrik „Best Contemporary Folk“ erhielten.

Eine andere, weniger intensiv bearbeitete Forschungsrichtung nimmt die gesellschaftspolitische Wirkung des Künstlers in den Blick. Sie fokussiert naturgemäß stärker auf Textrepertoire, Auftreten und Äußerungen in der Öffentlichkeit sowie das soziale und politische Engagement. Mit Stefan Pavenzingers Münchener Dissertation liegt jetzt eine Arbeit vor, die diesen Aspekt in Johnny Cashs Leben und Werk zum ersten Mal systematisch und umfassend beleuchtet. Der Autor sieht die gesellschaftspolitische Bedeutung Cashs vor allem in seiner Vermittlerfunktion zwischen dem ländlich-konservativen und urban-liberalen Amerika. In den turbulenten sechziger Jahren habe es Cash geschafft, die beiden auseinanderstrebenden Seiten der US-Gesellschaft gleichermaßen anzusprechen und für sich einzunehmen. Die Arbeit möchte ergründen, wie und warum ihm dies gelungen ist. Dabei stellt sie zum einen auf Aspekte der Persönlichkeit ab, die die charismatische Ausstrahlung und Authentizität der Inszenierung des als Man in Black zum Mythos gewordenen Sängers hervorheben. Zum anderen fragt sie nach inhaltlichen Themenschwerpunkten und den Haltungen, die Cash zu diesen Themen im Einzelnen bezog.

Die Vermittlerfunktion Johnny Cashs wird auf den Zeitraum zwischen 1963 und 1972 plausibel eingegrenzt. Nach seinem erfolgreichen Einstieg bei Columbia-Records im Jahr 1958 durchlief der Jungstar zunächst eine kommerzielle Durststrecke, die er erst 1963 mit der Aufnahme von Ring of Fire beenden konnte. Indem der Millionenseller Cash einen lukrativen neuen Plattenvertrag einbrachte, hielt er ihm zugleich den Rücken für die Arbeit an Konzept- und Themenalben frei, die nicht besonders hit- und verkaufsträchtig waren. Noch vor Ring of Fire hatte Cash mit Blood, Sweat and Tears 1963 eine Platte herausgebracht, die ausschließlich aus Songs über den working man bestand. 1964 folgte mit Bitter Tears das Album über das Schicksal der amerikanischen Indianer, das viele bis heute für sein bestes überhaupt halten. Cashs Kreativität in dieser Zeit ist umso bemerkenswerter, als er hier bereits schwer drogenabhängig war. Nach der (vorläufigen) Überwindung seiner Sucht konnte Cash mit seinem im Staatsgefängnis von Folsom (Kalifornien) live aufgenommenen Album einen lange gehegten Wunschtraum realisieren. Als Johnny Cash at Folsom Prison in stürmischer Zeit Mitte 1968 herauskam, traf es den Nerv einer durch die politischen Ereignisse zunehmend verunsicherten, ja traumatisierten amerikanischen Gesellschaft. 1969 legte Cash mit einem weiteren Gefängnis-Album nach (At San Quentin), das seine öffentliche Präsenz in neue Dimensionen katapultierte und ihn endgültig zum amerikanischen und weltweiten Superstar machte, dessen Plattenumsätze jetzt sogar die der Beatles übertrafen. Der Erfolg trug Cash eine Prime Time-Fernsehshow ein, die – in 58 Folgen von 1969 bis 1971 ausgestrahlt – den Höhepunkt seiner Vermittlerrolle markierte. Die Gästeliste liest sich wie ein who is who der US-Musikgeschichte. Sie deckte die unterschiedlichsten Sparten ab und bot dem konservativen Nixon-Freund Bob Hope genauso ein Podium wie dem von manchen als Kommunisten gebrandmarkten Antikriegsaktivisten Pete Seeger, auf dessen Einladung Cash gegen den Willen der Programmverantwortlichen bestand.

Die Absetzung der Show stellt rückblickend betrachtet eine entscheidende Zäsur in Cashs bis dahin erfolgreich wahrgenommener Vermittlerfunktion dar. Dem Sender missfiel, dass der Sänger das Fernsehen als Plattform benutzte, um sich offen und bisweilen missionarisch zu seiner Religiosität zu bekennen, was zu dieser Zeit in den USA noch nicht en vogue war. Dies mag mit dazu beigetragen haben, dass Cash und seine Frau June Carter – gegen jede „karrieretechnische“ Vernunft und den ausdrücklichen Rat des damaligen Managers Saul Holiff – die Erfolgsspur bewusst verließen, um in Israel 1972 den Jesus-Film Gospel-Road zu drehen (der sich kommerziell prompt als Flop erwies). Zur selben Zeit endete Cashs sichtbares politisches Engagement. Desillusioniert von seinen gescheiterten Bemühungen um eine Reform des Gefängnissystems, für die er im Rahmen einer Anhörung auch im US-Senat öffentlich geworben hatte, wandte er sich nun in seinen Liedern und öffentlichen Auftritten von der Gesellschaftskritik ab und schlug patriotischere Töne an. Damit huldigte er zugleich dem konservativer gewordenen Zeitgeist, der im Zuge des Watergate-Skandals nach einer Rückbesinnung auf die nationalen Traditionen verlangte. Stellvertretend für diese Wende stehen das 1972 veröffentlichte Album America und die zwei Jahre später erschienene Eloge auf die „zerschlissene alte Fahne“ (Ragged Old Flag), die Cash in seinen US-amerikanischen Konzerten bis 1997, als er das Touren krankheitsbedingt aufgeben musste, regelmäßig intonierte.

Pavenzinger macht Cashs gesellschaftspolitische Vermittlerfunktion an vier Bereichen fest: (1) an der erwähnten Gefängnisreformdebatte, wo sich das Engagement des Sängers seit dem Folsom-Album auch mit seiner persönlichen Beziehung zu dem dort einsitzenden Häftling Glen Sherley verband, um dessen Freilassung im Jahre 1971 sich Cash erfolgreich bemühte. Sherleys Selbstmord sieben Jahre später nach einem gescheiterten Leben in Freiheit steht symbolhaft für Cashs eigenes Scheitern mit seinen Reformbemühungen. Als „Herzensangelegenheit“ schildert Pavenzinger (2) Cashs Eintreten für die Native Americans, das auch nach 1972 nicht endete, obwohl er das Thema seither (mit einer Ausnahme) in keinem seiner Songs mehr aufgriff oder öffentlich und medienwirksam dazu Stellung nahm. Ambivalenter gestaltete sich (3) die Haltung Cashs zu den Afroamerikanern. Abgesehen von einer rassistischen Äußerung aus seiner Militärzeit in Deutschland gibt es keine Hinweise, dass Cash Vorurteile gegenüber der schwarzen Minderheit gehegt haben könnte. Dagegen spricht allein, dass er ein entschiedener Gegner des Ku-Klux-Klan war, der ihn wegen seiner angeblich afroamerikanischen ersten Frau Vivian Liberto 1966 öffentlich als „Negerfreund“ und „Rassenschänder“ beschimpft hatte. Cash tat sich allerdings nie als Fürsprecher für die Schwarzen im Allgemeinen oder die Bürgerrechtsbewegung im Besonderen hervor. Dafür fehlte es ihm als Südstaatler, der mit Afroamerikanern kaum in Berührung gekommen war, an Empathie, einmal abgesehen davon, dass es ihn von der weißen Unterschicht entfremdet hätte, die den Kern seiner Anhängerschaft ausmachte. Ein ähnliches Problem kennzeichnet (4) seine Haltung zum Vietnam-Krieg, der die amerikanische Öffentlichkeit genau zu dem Zeitpunkt am heftigsten polarisierte, als Cash auf dem Zenit seiner Popularität angelangt war. Einerseits unterstützte Cash bedingungslos die überwiegend aus der Unterschicht rekrutierten Soldaten, andererseits musste er sich gerade deshalb vor einer dezidierten Absage an den Krieg und einer Unterstützung der Kriegsgegner hüten, die den Soldaten angeblich in den Rücken fielen. Die Sympathien der Friedensbewegung sollte sich Cash spätestens im April 1970 verscherzen, als er die Einladung Präsident Nixons zu einem Konzert im Weißen Haus annahm.

Die auf breiter Quellenbasis angefertigte Studie stellt eine imponierende Forschungsleistung dar. Sie gibt nicht nur einen profunden Einblick in das Wirken und Schaffen des Künstlers Johnny Cash in seiner produktivsten Phase, sondern spiegelt auch wesentliche Kapitel und Zäsuren der US-amerikanischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert wider. Selbst die kundigsten Cash-Fans werden sich schwer tun, in der Darstellung sachliche Fehler zu entdecken – die wenigen Ausnahmen sind nicht nennenswert. Der Autor begegnet seinem Gegenstand zwar mit Sympathie, wahrt aber stets die für einen Wissenschaftler gebotene kritische Distanz. Damit bietet die Studie auch für diejenigen wertvolle Aufschlüsse, die – wie der Rezensent – mit der Biographie des Helden bestens vertraut sind. Die Arbeit ist zudem gut geschrieben und meidet den in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen häufig überbordenden Jargon. Dass eine an Umfang und Gründlichkeit vergleichbare Untersuchung in den USA bisher noch nicht vorgelegt wurde, gereicht der deutschen Amerikaforschung zur Ehre. Es kann zugleich als Ausdruck einer besonderen Wertschätzung des Sängers betrachtet werden, der in Deutschland bis heute eine seiner weltweit treuesten Fangemeinden hat.

 

Frank Decker (Bonn)