Sabine N. Meyer, We Are What We Drink: The Temperance Battle in Minnesota (Urbana: U of Illinois P, 2015), 288 pp.
Amerikastudien / American Studies 63.4
Man sollte meinen, über die amerikanische Temperenzbewegung des langen 19. Jahrhunderts sei auf beiden Seiten des Atlantiks schon hinreichend viel geforscht und geschrieben worden. Es sei nur an die älteren Standardwerke von William J. Rorabaugh und Thomas R. Pegram sowie die jüngere, ausgezeichnete Darstellung von Thomas Welskopp zur nationalen Prohibition erinnert. Dennoch gelingt es Sabine Meyer, die jetzt als Assistentin in Osnabrück tätig ist, in dieser Rudolph J. Vecoli inspirierten und von Alfred Hornung in Mainz betreuten Dissertationsschrift, der Geschichte einen neuen, originellen und zugleich informativen Spin zu verleihen. Dies gelingt ihr, indem sie, einem neueren Trend der Forschung folgend, ihre Fragestellung lokal verortet und dies obendrein methodisch gut verankert, indem sie, neben den klassischen Fragen nach race, class, gender und Religion, nach der fluiden und durch mannigfaltige Formen und Varianten von Intersektionalität charakterisierten Identität lokaler Räume fragt. Gerade für St. Paul in Minnesota, das im Zentrum ihrer überaus flüssig geschriebenen, nuanciert und reflektiert argumentierenden Studie steht, lohnt sich der lokale Blick in besonderem Maße, mehr zumindest, als etwa in Cincinnati, Boston oder Chicago, die meist den nationalen Patterns folgten. Fast selbstverständlich stößt auch Meyer auf die üblichen Verdächtigen aus der weißen, angelsächsischen, protestantischen Mittelklasse, insbesondere Frauen, die vom späten 18. und frühen 19. Jahrhundert an in unterschiedlicher Intensität und Radikalität wahlweise für moderate Temperenz gegenüber dem oder radikale Abstinenz von dem als sozialem und moralischen Übel gebrandmarkten Alkohol antraten, gerne mit einem evangelikal-postmillenaristischen, perfektionistischen oder aufgeklärt-liberalen Welt- und Menschenbild im Hintergrund. Auch die erwartbaren katholischen Gegner fehlen nicht. Aber in St. Paul stellte sich die Gemengelage von Befürwortern und Gegnern der Temperenzbewegung deutlich vielfältiger dar als andernorts. Dies hing ganz eng mit den von der Verfasserin so sorgsam markierten spezifischen lokalen Identitätsbildungsprozessen zusammen, da in St. Paul seit den 1840er Jahren die katholische Kirche nicht vorrangig aus einer randständigen, soziokulturell marginalen Position heraus agierte, sondern aufgrund der frankokanadischen Gründungsgeschichte eine selbst von vielen Protestanten anerkannte moralische Führungsposition innehatte. Das daraus resultierende Selbstbewusstsein verhinderte jene militant ultramontane Tonlage in der katholischen Agitation, die für den Rest der USA typisch war. Dies wiederum verband sich mit den höchst konkreten Bemühungen des französischen Bischofs Joseph Cretin und seines irischen Nachfolgers Erzbischof John Ireland um eine Amerikanisierung in erster Linie des irischen Katholizismus in ihrer Diözese. Während Cretin erst im Laufe der Zeit von einer typisch französischen, moderaten Position, die in regelmäßigem, aber mäßigem Weinkonsum kein ethisches Problem sah, zur Temperenzbewegung fand, hatte Ireland bereits als Jugendlicher gegenüber dem irischen Temperenzapostel Fr. Theobald Mathew, OFMCap. den Abstinenzeid abgelegt. Mit Hilfe katholischer Temperenz- und Abstinenzorganisationen wirkten die beiden hohen Kleriker in die irische Gemeinde hinein, die sich ihnen unter dem Gesichtspunkt sozialen Aufstiegs und nationaler Integration zwar nicht mehrheitlich, aber doch in hinreichender Zahl anschloss. In den 1880er Jahren fand sich dann sogar Papst Leo XIII. zu einer Apostolischen Breve bereit, welche Erzbischof Irelands Position ausdrücklich und zur Überraschung vieler billigte. Der moralische Furor des hohen Klerus, der für die USA höchst untypisch war, sorgte indes innerhalb des Katholizismus vor Ort für einen scharfen Konflikt, da deutsche Katholiken, gemeinsam mit der überwältigenden Mehrheit ihrer migrierten Landsleute schlicht zu diesem Akt der sozialmoralischen Assimilation nicht willens waren. Vehement agitierten sie gegen die Abstinenzgesellschaften, denen sie „Muckertum“ vorwarfen. In Cincinnati redete man demgegenüber gerne von den „Temperenzbestien“. Meyer geht dann zwar am Rande noch darauf ein, inwiefern dieser Konflikt dann auch im bekannten Amerikanismusstreit zwischen Teilen der irisch-amerikanischen katholischen Kirche und dem Vatikan unter Leo XIII. eine Rolle spielte, nützt aber das in diesem Umstand liegende analytische Potential, das ihre Thesen nur noch mehr bestätigt hätte, nicht vollkommen aus. Dafür zeigt sie sehr schön, wie sich irisch-katholische Frauen mit Mittelklasseaspirationen durch den hohen Anteil protestantischer Mittelklassefrauen in WCTU und ASL veranlasst sahen, ebenfalls politisch aktiv zu werden. Und politisch wurde der Konflikt, je länger, umso mehr. Während Ireland und Teile der irischen Reformer den Republikanern anhingen, wandte sich eine Mehrheit der Katholiken und anderen Migranten, von denen dann vor allem die Skandinavier in der Temperenzbewegung auftauchten, den Demokraten zu. Aus einer moralischen wurde eine politische Debatte, deren Fronten gleichwohl durchweg fluide blieben.
Umgekehrt kann Meyer auf lokaler Ebene den von der jüngeren Forschung – es sei nur Charles Postel erwähnt – konstatierten inneren Zusammenhang von Populismus und Progressivismus in der Alkoholdiskussion von St. Paul präzise belegen. Dazu zählt vor allem die evangelikal-postmillenaristische Grundierung der populistisch-progressivistischen Weltanschauung, deren Perfektionismus sich unmittelbar aus der zweiten Erweckungsbewegung speiste und nur notdürftig säkular-liberal übertüncht war.
Sabine Meyer hat ein inhaltlich wie methodisch überzeugendes, sorgsam reflektiertes, aber jargonarmes Buch vorgelegt, das sich vorzüglich dazu eignet, die Stärken eines bewusst lokalgeschichtlichen Zugriffs anschaulich zu machen.
Michael Hochgeschwender (München)