SUSANN NEUENFELDT, Schauspiele des Sehens: Die Figur der Flaneurin, Voyeurin und Stalkerin im U.S.-amerikanischen Essay, American Studies – A Monograph Series, Vol. 239 (Heidelberg: Winter, 2015), 294 pp.
Amerikastudien/ American Studies 63.2
Das Sehen ist kein neutraler Akt der Wahrnehmung, sondern es wohnen ihm Prozesse der Aneignung und Klassifizierung inne, welche die hierarchisierten Differenzen einer Gesellschaft abbilden und sich um binäre Dichotomien wie Subjekt/Objekt, Betrachter/Betrachtete, aktiv/passiv konstituieren. Susann Neuenfeldt will die Machtverhältnisse deutlich machen, die den „vergeschlechtlichten Blickregime[n]“ (22) der Flanerie, des Voyeurismus und des Stalkings zugrunde liegen. Ihre Studie widmet sich den Inszenierungen des Sehens in der U.S.-amerikanischen Kultur und einer essayistischen Praxis, die einen experimentellen Raum jenseits „traditioneller Blickregime“ (20) eröffnet und so die Inszenierung weiblicher weißer Betrachterfiguren zulässt.
Anstelle eines einführenden Theoriekapitels nutzt das Buch eine Analyse von Edgar Allen Poes Kurzgeschichte „The Tell Tale Heart“ (1843), als „Linse“ für die nachfolgenden Essayanalysen. Neuenfeldt liest Poes Geschichte als „Allegorie für den radikalen Zusammenbruch des Camara-Obscura-Seh-Modells“ (36), da „der bestialische Mord an dem alten Mann als die totale Zertrümmerung der alten Sehapparatur“ (42) zu interpretieren sei. Sowohl durch das Setting wie auf der Figurenebene werde eine Camera Obscura imitiert: Das Schlafgemach des alten Mannes wird nur erleuchtet durch einen Lichtspalt, der ein Bild an die gegenüberliegende Wand projiziert, und das übermächtige zyklopische Auge des alten Mannes personifiziert ihn selbst als Camera Obscura. Die Autorin schlussfolgert, dass mit dem Zusammenbruch des Camera Obscura Modells neue technische Sehapparaturen und -techniken entstanden, sie nennt Fotografie und Film, die den Körper in den Sehvorgang eingliederten.
Der Analyseteil beginnt mit Ann Sophia Stephensʼ Essayzyklus High Life in New York, in dem eine männliche Person namens Jonathan Slick durch New York flaniert. Während Stephens in der ersten, 1844 im Londoner Verlag Jeremiah How erschienenen, Ausgabe noch klar erkennbar ist als weibliche Autorin, die sich eine männliche Betrachterfigur aneignet, wird sie in der weiteren Publikationsgeschichte immer weiter getilgt. Ihr Ehemann Edward Stephens gibt das Buch 1844 in New York als Briefwechsel zwischen Vater und Sohn heraus. In den weiteren New Yorker Ausgaben wechselt die Autorschaft dann von Stephens zu Slick, indem das Buch zu einem Briefroman des „Autors“ Jonathan Slick wird. Die Editionsgeschichte ist spannend, unklar bleibt jedoch wie Stephens Blickregime unterläuft und wie dies mit neuen Sehapparaturen zusammenhängt. Auch der Rückbezug auf die Figur des Flaneurs wirft einige Fragen auf. So wird diese im gesamten Kapitel weder historisch situiert noch definiert—und wenn unzureichend, etwa wenn die Autorin auf S. 53 das Flanieren als zielgerichtetes Laufen beschreibt, obwohl ein Merkmal des Flaneurs gerade ist, dass er zwar einen Zweck verfolgt, aber kein Ziel. Neuenfeldt definiert den Flaneur dann gänzlich idiosynkratisch als „traumatische Restfigur der historisch zurückliegenden gewaltsamen Besetzung des nordamerikanischen Kontinents“, die „in einer Genealogie und in einer historischen Linie mit den ehemaligen Kolonisatorinnen und Kolonisatoren des Landes [steht]“ (73). In dieser Verallgemeinerung ist die These nicht haltbar. Hyperbolische Formulierungen wie die folgende machen das Argument nicht überzeugender: „Indem [Stephens] mit ihren Wanderungen durch New York City den Gründungsmythos der U.S.-amerikanischen Nation aufruft, schmiedet sie eine Allianz—ein Machtbündnis—mit der weißen, männlichen Besetzergeneration“ (77). Letztlich deutet Neuenfeldt dies als Trick Stephensʼ, mit dem sie „den Gender-Skandal ihres essayistischen Projekt“ durch den Verweis auf das nationale Trauma zu entschärfen versucht (78). Dies bleibt reine Spekulation, da die vermeintliche Intention Stephens durch keinerlei Textstellen belegt wird.
Das dritte Analysekapitel widmet sich den geschlechtsspezifischen Blickbeziehungen in der modernistischen Portraitmalerei anhand der korrespondierenden Bild/Essayportraits von Pablo Picasso/Gertrude Stein und Diego Rivera/Frieda Kahlo. Während Picasso und Rivera Portraits der Frauen malen, antworten diese jeweils mit einem Essayportrait über die Maler, in denen sie laut Neuenfeldt die Position der Voyeurin einnehmen und so den Blick des Betrachters umkehren und zurückwerfen. 1906 malte Pablo Picasso ein Portrait von Gertrude Stein, das als Beginn des Kubismus gefeiert wurde. Drei Jahre später portraitierte Stein Picasso in einem Essay, der laut Neuenfeldt Dualismen von Künstler/Muse und Original/Kopie ebenso wie die visuellen Macht- und Herrschaftsverhältnisse umkehrt. 1931 malt Diego Rivera einen sitzenden Akt von Kahlo, die 1941 mit einem Essay „Portrait“ antwortet. Indem sie jedes Körperteil von Rivera aufruft und mit persönlichen Geschichten verknüpft, inszeniert sie sich laut Neuenfeldt als teilnehmende Betrachterin statt als körperloser schaulustiger Voyeur und eignet sich einen Künstlerblick an, der für Frauen tabu war. Das Unterkapitel weist verwirrend viele Exkurse zur Portraitmalerei auf, etwa zu Poes „The Oval Portrait“ oder zum Kunstraub der Mona Lisa. Offen bleibt aber letztlich, ob die Autorinnen sich nun als Voyeurinnen inszenieren oder dies eben gerade unterlaufen.
Das letzte Analysekapitel nimmt Annie Dillards Pilgrim at Tinker Creek (1974), von Neuenfeldt als Essayzyklus bezeichnet, in den Blick. Neuenfeldt kommt zu dem Schluss, dass Dillard „die Wirkmächtigkeit des männlichen Blicks […] durchkreuzen“ (184) will. Das essayistische Ich sei bei Dillard eine „albtraumwandlerische Betrachterin“ (187), das durch bestimmte Sehübungen dissoziierte Bilder ohne Konturen produziert. Dillard schreibt sich mit intertextuellen Referenzen in die westliche männliche Wissenschaftsgeschichte ein und unterläuft diese zugleich durch ihre schlafwandlerischen Passagen, so dass ihre Narration zwischen „visueller Pathologie und poetischer Visualität“ (199) angesiedelt sei. Da im Zentrum des Buches ein Essay mit dem Titel „Stalking“ steht nimmt Dillard für Neuenfeldt die Position einer Stalkerin ein, welche die Natur exzessiv beobachtet und Tiere gelegentlich mit ihrem Blick tötet. Dass Dillard in ihrer creative non-fiction vor allem Thoreaus intensive Erkundung der Natur und des Selbst nachahmen wollte, geht in diesem Zusammenhang gänzlich unter. Dillards Wolfswerdung, in der sie sich auf indigene Traditionen bezieht, interpretiert Neuenfeldt als „eine krasse Aneignungsgeste, eine Form des ethnic drag,“ (216). Hierin zeige sich, ähnlich wie bei Stephens, Dillards „Mittäterschaft im kolonialen Projekt“ (216). Auch Dillards Rückbezug auf Nationalmythen der USA sei „eine weitere Strategie der Partizipation an bestehenden rassistischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen und der Stabilisierung Weißer Macht und Dominanz“ (200). Die Besiedlung des Westens und Auslöschung indigener Kulturen wird schlussfolgernd als „Form des Nationalen Stalking“ beschrieben (217).
Die Studie weist inhaltliche Schwächen auf, da die Figuren des Flaneur, Voyeur und Stalkers nicht genügend definiert werden und vor allem nicht deutlich wird, wie die Autorinnen sich diese Betrachterfiguren aneignen und die Hierarchie des Blicks verkehren. Auch handwerklich gibt es Mängel, da Behauptungen oft nicht durch Zitate belegt werden. Wie aus den oben zitierten Passagen deutlich wird, bedient sich die Arbeit einer redundanten und phrasenhaften Ausdrucksweise, die im Prinzip richtige und gute Beobachtungen aushöhlt. Wenn man die Formulierung „vergeschlechtliche Blickbeziehungen“ zum zehnten Mal auf drei Seiten gelesen hat, verkommt sie zur Phrase; ebenso findet sich die Formulierung „Macht- und Herrschaftsverhältnis“ auf den Seiten 117/118 sechs Mal in nur zwei Absätzen. Das Wort „traditionell“ taucht durchgängig auf und wird selbsterklärend verwendet.
Formulierungen wie „total“, „krass“, „gnadenlos“ (89) oder „knallhart“ (96) zeugen in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht nur vom falschen Register, sondern produzieren eine unnötige Dramatik. Steins Essayportrait beschreibt Neuenfeldt als „gewaltige[n] Aufwand“, (120), „energetischen Aufwand“, „Kräftefeld“ (141), „Kraftakt“ (147) oder „energetische Anstrengung“ (148). Oft fehlen der Autorin die präzisen Begriffe und theoretischen Instrumentarien, um ihre Beobachtungen angemessen zu beschreiben. Dies kulminiert in der Formulierung, der Essay funktioniere „wie ein Hacker, der Stein in das System eines anderen Genres einzuschleusen“ vermöge (154). Eine solch überbordende Rhetorik schadet den Thesen der Arbeit. Man fragt sich, warum hier die Gutachter nicht stilistisch objektivierend eingegriffen haben. Notgetan hätte auch eine Disziplinierung der Gedankengänge, eine bessere Fokussierung und eine solidere theoretische Fundierung der Begriffe „Herrschaft“, „Machtregime“, „Gender“ oder „Embodiment“. Abschließend lässt sich sagen, dass ein interessanter, wenngleich sehr heterogener, Textkorpus präsentiert und viele gute Gedanken andiskutiert, aber nicht befriedigend durchdacht und zusammengeführt werden. Letzteres muss die Leserin selbst mit Mühe leisten.
Caroline Rosenthal (Jena)