ULFRIED REICHARDT, Globalisierung: Literaturen und Kulturen des Globalen (Berlin: Akademie Verlag, 2010), 252 pp. Reviewed by Sigrun Meinig

Amerikastudien / American Studies 59.2 (2014)

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In dem Studienbuch Globalisierung: Literaturen und Kulturen des Globalen von Ulfried Reichardt bringt das im Zentrum stehende Phänomen eine spezifische Perspektive mit sich. Diese liegt in “ [der] entscheidende[n] Einsicht […], dass wir von unhintergehbaren Unterschieden und einer umfassenden Einheit gleichzeitig auszugehen haben” (222). Der Übersichtsband schildert präzise und detailliert, welche Bedeutung diese aus den Prozessen der Globalisierung hervorgehende zentrale Einsicht und weitere für die Vorgehensweisen und das Selbstverständnis der Literatur- und Kulturwissenschaften haben. Der Band bietet so eine Sicht auf das Phänomen der Globalisierung und ihre Auswirkungen, die in vergleichbaren deutschsprachigen Bänden, deren Anzahl gegenwärtig auch noch recht überschaubar ist, wenig Platz findet, da diese ökonomische, historische und vor allem soziologische Ansätze vermitteln. Im Falle des UTB-Bandes Globalisierung (2011) von Christoph Scherrer und Caren Kunze etwa wird zwar auf die Vorrangsstellung der Wirtschaft in der Globalisierungsforschung hingewiesen, aber dennoch die dabei zugleich benannte Rolle der Kultur nicht tiefer gehend verfolgt.

 

Im Aufbau des Studienbuchs spiegelt sich der Ursprung der Globalisierungsforschung in Soziologie und Ökonomie in den ersten Kapiteln, die zunächst die Facetten des Phänomens und die Begriffsvielfalt zur Globalisierung und ihre Geschichte beschreiben sowie ihre wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen und schließlich die die wissenschaftliche Diskussion prägenden soziologischen Theorien zur Globalisierung darstellen. Dabei wird deutlich, dass Globalisierung nicht erst mit der Allgegenwärtigkeit des Begriffs tiefgreifend wirksam ist, sondern dass von um 1500 an entscheidende Entwicklungen des Handels- und Migrationssystems einsetzen, die schließlich zu den heute bestehenden Netzwerken und transnationalen Verflechtungen in Wirtschaft und Politik führen. Deren Prozesse werden meist mit dem Bild von Flüssen beschrieben, die unterschiedliche scapes betreffen, etwa die financescapes oder die mediascapes (Arjun Appadurai). Reichardt betont hier, dass es eine umfassende oder einheitliche Theorie des Globalen (noch) nicht gibt (vgl. 54 f.) und diskutiert verschiedene Perspektiven der angelsächsischen Sozialwissenschaften, in denen das Phänomen der Globalisierung bisher die größte Aufmerksamkeit und Theoriebildung erfahren hat. Dargestellt werden etwa die bekannte ‘Glokalisierung’ (Roland Robertson), die Interkonnektivität im Informationszeitalter (Manuel Castells) oder die Beschleunigung und Raum-Zeit-Verdichtung (David Harvey).

 

An diese grundlegenden ersten Kapitel, die vielfältige Perspektiven in differenzierten und wie im gesamten Band gut zugänglichen Texten integrieren, schließt sich ein kurzer Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Literatur- und Kulturwissenschaften an. Dieser Überblick bereitet die Einordnung der Globalisierung in diese Disziplinen im Folgenden vor, die in methodologische Überlegungen mündet. In Interpretationen von Repräsentationen von Städten oder aus unterschiedlichen Medien wie Literatur oder Film wird dies veranschaulicht. Das Studienbuch schließt mit einem anregenden Kapitel zum Kosmopolitismus und zur Zukunft der Globalisierungsforschung bzw. zum weiteren Umgang mit Globalisierung.

 

Reichardt zeigt in dieser Abfolge, in der allein eine kurze Erläuterung der Positionierung der Kapitel sechs bis acht innerhalb der Textabfolge wünschenswert gewesen wäre, wie die Entwicklung der Literatur- und Kulturwissenschaften die Auseinandersetzung mit der Globalisierung ‘vorbereitet,’ da in der Theoriebildung um Dekonstruktion und Postmoderne Zentrierungen und klare Hierarchisierung aufgebrochen und zugleich, vor allem in den Postcolonial Studies, globale Ansätze für den Blick auf Literatur und Kultur entwickelt wurden, bei einer gleichzeitigen deutlichen Politisierung. Auch wenn ein global turn noch nicht eingetreten ist, besteht inzwischen somit eine große Aufmerksamkeit für Pluralität und Vernetzung, den Grunddimensionen der Globalisierung (vgl. 81).

 

Ein eigenes Kapitel ist der Methodik zur Untersuchung solcher Fragestellungen in den Literatur- und Kulturwissenschaften gewidmet. Reichardt stellt auch hier fest, dass es eine klare Methode (noch) nicht gibt, bietet aber eine strukturierende Liste mit Interpretationselementen zu Globalisierungsrepräsentationen an. Diese beinhaltet etwa die Analyse der pluralen Kontexte der Globalisierung, die Untersuchung der Semiotik der Darstellungen oder die differenzierte Kritik der Perspektiven, die die Repräsentationen vermitteln (vgl. 130 f.). Hier zeigt sich konkret, wie der “Ortswechsel des Denkens” (so der Titel des Abschnittes 4.4.) in den Kulturwissenschaften in seinen einzelnen Schritten vollzogen werden kann. Entscheidend ist dabei, dass im Sinne der Vernetzung das ständige Bewusstsein der eigenen Position notwendig ist; die eigene Position muss deshalb bei jeder Interpretation reflektiert werden, wie durchgängig sehr überzeugend in dem Band betont wird.

 

Wenn es darum geht, die eigene Position in der Verflechtung mit vielen weiteren zu erfassen und zu verhandeln, dann schlägt Reichardt vor allem in dem anregenden letzten Kapitel, das sich mit dem Kosmopolitismus befasst, für diese Prozesse mit Salman Rushdie den Begriff der “Übersetzung” vor (136). Zentrale Theoretiker wie Anthony Kwame Appiah oder Chantal Mouffe betonen, dass eine abschließende Aushandlung der Positionen in ihrer Pluralität nicht möglich sein wird und deshalb dauerhaft Gespräch und Kommunikation essentiell sind. An den hierfür wichtigen Begriff der Übersetzung, der mit seinem Fokus auf Sprache und semiotische Prozesse differente Positionen betont, wird sichtbar, wie die Literatur- und Kulturwissenschaften nicht nur die Perspektive der Globalisierung in bisherigen Theoretisierungen übernehmen, sondern ebenfalls Konzepte zur Erfassung der Globalisierung anbieten. In der ursprünglichen Sprachgebundenheit des Konzepts der Übersetzung wird auch deutlich, weshalb die die Sprache verdichtenden Literaturen im Titel des Bandes an erster Stelle stehen, was in den Texten nur in Ansätzen verhandelt wird.

 

Das letzte Kapitel zeigt beispielhaft, wie reichhaltig die Argumentation des Bandes ist, denn das Forschungsfeld Kosmopolitismus wird mit einer Diskussion der Rolle der Menschenrechte und den Positionen von Theoretikern wie Seyla Benhabib oder Ulrich Beck eröffnet, um nach Perspektiven von u. a. Richard Rorty, Appiah, Mouffe und Jürgen Habermas schließlich auch die ökologische Dimension der Fragestellung aufzuzeigen. Diese umfassende Darstellung wird durch eine Fülle von Beispielen und Kurzinterpretationen veranschaulicht. Im der Literatur gewidmeten Kapitel elf werden beispielsweise—ausgehend von Alexander von Humboldts Kosmos—Franz Kafka’s Kurzgeschichte Das nächste Dorf, die die Erweiterung des Blicks über den eigenen Ort hinaus zeigt, und Texte von Salman Rushdie, Yoko Tawada, Feridun Zaimoglu, Derek Walcott, Don DeLillo, Jorge Luis Borges und weiteren diskutiert. Zur Verdeutlichung und Pointierung der Argumentation ist jedem Kapitel weiterhin eine Abbildung vorangestellt, die anschließend auf einer halben Seite als Zusammenfassung der folgenden Argumentation diskutiert wird. Dies, wie auch die umfangreichen Materialien, wie Glossar, Bibliographien, Hinweise zu Forschungseinrichtungen und Studienprogrammen, sind Teil des Formats der Reihe, in der das Studienbuch erscheint; im Falle von Globalisierung jedoch wurde gerade die Auswahl der Abbildungen, insbesondere der Fotografien, sehr anregend und einprägsam vorgenommen. Ulfried Reichardt, der auch den Sammelband Die Vermessung der Globalisierung: Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Heidelberg 2008) herausgab und das Promotionskolleg zur Globalisierung an der Universität Mannheim mitinitiierte, macht mit diesem Verfahren in der Fülle an Materialien und Perspektiven und in ihrer Anordnung für die Zielgruppe des Studienbuchs die Tatsache eindrücklich, dass die Globalisierung ein multidimensionaler Prozess ist und dass seine Haupterkenntnis eben die Notwendigkeit ist, die einzelnen Bestandteile sorgfältig zu differenzieren und dabei das bewegliche Ganze immer im Auge zu behalten.

 

Frankfurt am Main, Sigrun Meinig