Call for Papers: “Relativität und Bildung” Fachdidaktische Tagung vom 18.2.-20.02.2020 an der Eberhard Karls Universität Tübingen

In einer pluralen und demokratischen Gesellschaft ist die Relativität von Gewissheiten konstitutiv geworden, so sind auch politische und religiöse Vereindeutigungsversuche hier nur Ausdruck für die Nachfrage nach stellvertretenden Bewältigungsangeboten.

Das Thema Relativität scheint aber neben dieser gesellschaftlichen Dimension auch aus fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und bildungstheoretischen Gründen geeignet, in eine wichtige Grundlagendiskussion hineinzuführen.

Die Frage der Relativität ist bildungstheoretisch von grundsätzlichem Interesse. Dass ein allgemeines Bildungsziel in der Einsicht in die Perspektivität und damit Relativität von Erkenntnis besteht, das ist zum einen der theoretischen Selbstreflexion der Wissenschaft geschuldet sowie der Notwendigkeit, deren state of the art in Bildungskontexte zu transformieren. Zum anderen findet diese Reflexion auch in einer historisch-kulturellen Situation statt, in der Pluralität selbst ein Wert und damit ein Bildungsziel ist. Damit hängt aber die spezifische Herausforderung zusammen, Perspektivität und Relativität nicht zu Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit werden zu lassen. Einsicht in strukturelle Perspektivität und Relativität wird so zum Ausgangspunkt für ein darüber hinausgehendes Bildungsziel, das sich als Orientierung in relativen Gewissheiten beschreiben lassen könnte. Zur historisch-kulturellen Situation gehört auch, dass seitens bestimmter Gruppen der Wert der Pluralität nicht geteilt wird und womöglich als Teil einer abgelehnten liberalen Bildungselite wahrgenommen wird. Das Thema Relativität und Bildung berührt auch diesen Zusammenhang, so ist Pädagogisches Handeln selbst fortlaufend durch Ungewissheit und Vermittlungskrisen gekennzeichnet.

Zudem stellt die Relativität von Erkenntnissen für die schulische Bildungsarbeit eine zusätzliche Herausforderung dar. Schülerinnen und Schüler bestehen auf einer eigenen Meinung und finden es andererseits mitunter unbefriedigend, wenn das Pro und Contra, das Einerseits-Andererseits schon das letzte Wort zu sein scheint, gerade in Fächern, in denen sie sich Orientierung erhoffen. Im Unterricht kann ein Zuviel an Relativität bestehen, etwa wenn es heißt ‚Das muss jeder selber wissen‘ und damit jede weitere Reflexion unterbleibt. Auf einer weiteren Ebene gehört die Frage nach Relativität und Gewissheit besonders in den Fachdidaktiken zum Kerngeschäft ihrer Reflexion und Selbstvergewisserung. In der fremdsprachlichen Fachdidaktik wird beispielsweise hinsichtlich des Spracherwerbs nach der Relation zwischen lernersprachlichen Praktiken und zielsprachlichen Normen oder zwischen eigen- und fremdkulturellen Normen gefragt. Im Literaturunterricht entsteht häufig eine Diskrepanz zwischen der z. T. vehement verfolgten “Austreibung” der Vorstellung einer richtigen Interpretation einerseits, und dem Festhalten an Objektivitätsstandards andererseits. In den Theologien geht es um das Spannungsfeld zwischen Gewissheit und Ungewissheit hinsichtlich historischer sowie existenzieller religiöser Wahrheit. Ähnlich fragt die Didaktik der Philosophie/Ethik nach Begründungsmöglichkeiten von Werten und Normen vor dem Hintergrund der Unmöglichkeit der Letztbegründung. In der Geschichtsdidaktik und verwandten gemeinschaftskundlichen Fachdidaktiken sind zwar Unterrichtsprinzipien wie die Multiperspektivität und das Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses fest verankert, trotzdem besteht hinsichtlich des Umgangs mit den von Lernenden geäußerten Sach- und Werturteilen oftmals eine erhebliche Unsicherheit – gerade im Hinblick auf implizit von Lehrkräften zugrunde gelegten normativen Erwartungen. Auch der erkenntnistheoretisch nicht hintergehbare Konstruktcharakter jeder Geschichtserzählung trägt erheblich zur Verunsicherung bei.

Pädagogische Semantiken wie Heterogenität und Diversität stellen in diesen normativen pädagogischen und fachdidaktischen Erwartungsstrukturen auf lern- und leistungsbezogene Relativitäten um. ‚Inklusion‘ kann in diesem Kontext als Strategie der pädagogischen Relativitätshandhabung verstanden werden, die zwar ein relatives anstelle eines absoluten Leistungsverständnisses präferiert, die Frage jedoch, ob und in welcher Weise Inklusion notwendigerweise eine Relativierung von Sachgegenständen und gegenstandsbezogenen Lernprozessen bedingt, bislang offen lässt.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen plant eine Gruppe von Fachdidaktik-Professuren der Universität Tübingen eine Tagung zum Thema

„Bildung und Relativität. Herausforderungen und Grenzen des Relativen.“

Die fachdidaktische Tagung mit ca. 20 bis 30 Teilnehmenden soll helfen, die Reflexion bildungstheoretischer und fachdidaktischer Konzeptionen zu vertiefen:

  • Relativität als Thema der Fachdidaktik, der Bildungsphilosophie und der empirischen Wissenschaften – in welchem Verhältnis stehen die Perspektiven?
  • Inwiefern werden von Lehrenden und Lernenden Lernersprachen und Lernerkulturen als absolute bzw. stabile oder als relative bzw. veränderliche Systeme wahrgenommen?
  • Wie adressieren die Akteure im fachlichen Unterrichts sprachlich-kulturelle Normen, als absolute Normen (richtig/falsch) oder als relative Normen (z.B. im Hinblick auf kommunikative Funktionen, Varietäten, kulturelle Konstrukte)?
  • Wie genau sind alternative Einstellungen zu Relativismus und Fundamentalismus pädagogisch anschlussfähig zu bestimmen und welche Rolle kann ein Bildungsziel wie Pluralitätsfähigkeit dabei spielen?
  • Gibt es auch eine positive Bedeutung von Relativität?
  • Wie lässt sich ein prinzipienorientierter Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt oder Pluralität didaktisch konzeptualisieren?
  • Welche Funktion übernehmen Aufgaben in der fachdidaktischen Gestaltung von Relativitäten?
  • Welche methodologischen Fragen stellen sich in der empirischen Erfassung von Relativität bzw. der Förderung dessen?
  • Welche Erkenntnisse lassen sich auch dem historischen Vergleich des unterrichtlichen Umgangs mit verschiedenen Formen von Relativität gewinnen?
  • Mit welchen (neuen und alten) Normativitäten wird im Rahmen von Inklusionskonzepten auf die Relativität von Lern- und Leistungserwartungen reagiert?
  • Wie können fachdidaktische Ansätze die Relativität von Lernprozessen in Bezug auf inklusive Unterrichtssettings gegenstandsbezogen bearbeiten?
  • Wie lassen sich Werturteile im (Fremd-) Sprach- und Geschichtsunterricht nicht nur ethisch-philosophisch (im Grunde also heteronom) begründen, sondern wie könnten genuin fachdidaktische Ansätze zur Werturteilsbildung formuliert werden?
  • Viele Themen des Curriculums (in Lehr- und Bildungsplänen sowie Unterrichtswerken) besitzen einen stark normativen, politisch gewollten Gehalt. Besonders offensichtlich wird dies bei der Gendergeschichte, der Umwelt- oder der Kolonialgeschichte sowie den beiden deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert, aber auch hinsichtlich des Umgangs mit dem Thema der Nation/des Nationalismus. Wie lässt sich mit diesen oft implizit angelegten, tatsächlich aber normativ wirksamen Erwartungen im Unterricht umgehen und welche Erfahrungen bestehen hierzu in der Lehramtsausbildung?
  • Die Andersartigkeit zeitlich oder räumlich entfernter Gesellschaften und Literaturen, sowie gegenwärtiger Kulturen und Religionen auch hinsichtlich ihrer Wertesysteme ist für viele Lernende ein schwer zu überbrückendes Problem, wie lässt sich angesichts heterogener Lerngruppen ein Werterelativismus umgehen und welche praktischen Ansätze sind hier erfolgversprechend?
  • Mehrdeutigkeit und Relativität der Interpretation (und Übersetzung) literarischer, religiöser und philosophischer Texte – empirische Rekonstruktionen und Unterrichtspraxis?
  • Wie kann die Spannung, zwischen der von den Geschichts- und Geisteswissenschaften konstatierten historischen Relativität kultureller, religiöser und politischer Diskurse und den überzeitlichen normativen Ansprüchen der Religionen bildungstheoretisch konstruktiv bearbeitet werden?
  • Wie erzeugen Lehrende in der Unterrichtspraxis Normativität und Relativität und wie kann diese Praxis einer wissenschaftlichen fachdidaktischen Kritik zugänglich gemacht werden?

Die Abstracts im Umfang von ca. 500 Wörtern sollten bis zum 25.3.2019 unter geschichtsdidaktik@histsem.uni-tuebingen.de eingereicht werden, für inhaltliche Rückfragen wenden Sie sich gern an: carolin.fuehrer@uni-tuebingen.de.

Eine Übernahme der Reise- und Übernachtungskosten ist geplant, wird aber derzeit noch beantragt.

Wir sind gespannt auf Ihre Beiträge: Bernd Grewe, Friedrich Schweitzer, Bernd Tesch, Marcus Emmerich, Philipp Thomas, Wolfgang Polleichtner, Fahimah Ulfat, Uwe Küchler und Carolin Führer.